Flucht |
Mohamed
ist 14 Jahre alt. Er hat eine abgeschlossene Ausbildung in einem
Handwerksberuf; er hütet die Herde seiner Familie irgendwo südlich
der Sahara. Er bekommt ein Geschenk: einen Weltempfänger.
Sein Dorf wird von marodierenden Gruppen überfallen. Teile seiner Familie ermordet, seine Hütte abgebrannt. Aus seinem Radio hat er von anderen Orten weiter im Norden gehört; dort soll das Leben besser sein, sicherer. Es soll Arbeit geben, Möglichkeiten zur Weiterbildung. Mohamed macht sich auf den Weg, zu Fuss, immer nach Norden. Heute (2014) ist er 22 Jahre alt. Seit einigen Monaten wohnt er zusammen mit anderen Leidensgenossen in einer Unterkunft in Deutschland. Wie lange darf er noch hier sein? Jeden Tag muss er damit rechnen, dass er von der Polizei abgeholt wird; er soll nach Ungarn verbracht werden, dem Land, in dem er erstmals in der EU registriert wurde. Ungarn ist ein Land mit stark faschistischen Tendenzen. Schutz Suchende werden hier ohne Verfahren in Gefängenisse gesteckt. Sie bekommen keine menschliche Hilfe. Auch Italien bietet Flüchtenden keine angemessene Hilfe. Viele deutsche Gerichte interessiert das nicht - sie verfügen die Abschiebung. Mohamed hat seine "Überstellung" erhalten. In wenigen Tagen soll er nach Ungarn gebracht werden. Verwaltungsgericht und Oberverwaltungsgericht haben eine weitere Duldung abgelehnt. Der BGH hat eine eingereichte Klage nicht zur Entscheidung angenommen. Ich habe mit ihm gesprochen: er will nicht nach Ungarn, er kann es nicht. Er wurde dort nur misshandelt, gequält. Lieber will er in sein Heimatland zurück - dort erwartet ihn der sichere Tod! Auf seiner Flucht hat er in
Ungarn nur eins kennen gelernt: Das Gefängnis. Ohne Grund. Gegen Zahlung von
Geld haben sie ihn an der westlichen Grenze mit den Worten frei gelassen: „Da
ist Europa.“ Nun will ihn dieses Land wieder haben. Deutschland unterstützt dies,
unbeeindruckt davon, dass mehr als 65 % der Ungarn bei der Europawahl Parteien
gewählt haben, die eindeutig rassistisch sind. Er konnte bisher vor keinem
deutschen Amt / Gericht seine Gründe für die Unmöglichkeit der Rückkehr nach
Ungarn, bzw. in seine Heimat erzählen. Auf die Existenz einer Härtefallkommission
o. ä. wurde er nicht hingewiesen. Mohamed hat sich in Deutschland
so gut es nach einem halben Jahr mit eingeschränkten Rechten geht, eingelebt.
Er hat FreundInnen gefunden, trainiert für einen Halbmarathon, stellt
leidenschaftlich seine Fähigkeiten als Handwerker ehrenamtlich zur Verfügung.
Was muss in einem Menschen vorgehen, was muss er erlebt haben, dass er
den Tod einem unwürdigen Leben vorzieht? Gerichte und Behörden
interessiert das nicht. Ist das die vielgelobte und geforderte
Freiheit unserer Staatsführung?
Nach fast fünf Jahren ist eine Wendung eingetreten: Mohamed ist anerkannt, er hat Arbeit und eine Wohnung. Was bleibt ist die Sehnsucht nach seiner Heimat, nach seiner Familie. Wann werden diese Wünsche in Erfüllung gehen? |
Die
Geschichte ist Fiktion. Sie wurde zusammengesetzt aus den Geschichten
verschiedener Menschen, deren Anonymität gewahrt werden soll. |